Advaita – eine Kritik

Bewusstseinserweiterung wird mit Selbstverleugnung erkauft

Ich hatte über mehrere Jahre einen spirituellen Lehrer. Als ich ihn fand und sein Schüler wurde, lehrte er in einer Kombination aus Sufismus, den Lehren Don Juans, den Lehren Gurdjieffs und durchaus auch eigener Erkenntnisse. Während ich sein Schüler war, machte er einen radikalen Schwenk zur Advaita, der Lehre von Ramana Maharshi, den ich als sein Schüler notgedrungen irgendwie mitmachte. Dieser Schwenk zur Advaita hatte für mich vor allem eines zur Folge: eine langandauernde und tiefe Depression.

Advaita macht Ego und Verstand selbst für ihre Fehlfunktionen verantwortlich, die in der Folge überwunden werden müssen. Advaita suggeriert, Ego und Verstand wären nicht legitime Teile des Selbst. Und genau das stimmt nicht. Die Diskreditierung von Ego und Verstand ist eine Verleugnung von berechtigten und wichtigen Teilen des Selbst. Und selbst wenn mit der Advaita-Lehre auf diesem Wege Bewusstseinserweiterungen erreicht werden, so bleiben dabei wichtige Teile der Persönlichkeit auf der Strecke – nämlich alle die, welche als falsch oder unecht klassifiziert werden.

Das ist ein hervorstechendes Merkmal von Advaita: Die Einteilung in echt und falsch, wahr und unwahr. Das tun andere geistige Systeme auch. Die Frage ist dabei aber immer, ob man mit seiner Falsch-Einteilung echte und legitime Teile der Persönlichkeit mit erwischt. Falls ja, wird Erkenntnis mit Selbstverleugnung erkauft bzw. mit der Verleugnung von Teilen des Selbst.

Eines der erstaunlichsten Phänomene, das mich an Advaita von Anfang an immer wieder abgestoßen hat, vorweg:

Es geht ja um die Verwirklichung des Selbst – und zwar um eine möglichst andauernde Verwirklichung des Selbst. Dementsprechend gibt es in Advaita die, welche ihr Selbst verwirklicht haben und die, welche es noch nicht verwirklicht haben. Und weiterhin gibt es die, welche ihr Selbst dauerhaft verwirklicht haben und die, welche ihr Selbst nicht dauerhaft verwirklicht haben.

Wirklich etwas zu melden haben in Advaita nur die, welche ihr Selbst dauerhaft verwirklicht haben. In der Folge gibt es jede Menge Leute, welche die Verwirklichung des Selbst vortäuschen. Teilweise tun sie das ganz bewusst und teilweise bilden sie sich sogar wirklich ein, ihr Selbst verwirklicht zu haben aufgrund irgendeiner Pseudo-Erkenntnis. Sie haben dann irgendwie gelernt, die Advaita Sprache – oder sollte ich besser sagen, den Advaita Senf – von sich zu geben. Es ist – auch das eines der Kennzeichen von Advaita – die immer gleiche, gähnend langweilige Leier, die sich wieder und wieder im gleichen Kreis dreht. Hat man das lange und oft genug gehört, kann man das wie ein Automat selbst erzeugen.

Und dann gibt es in der Advaita-Gemeinde natürlich auch noch die, welche mal eine Erleuchtungserfahrung hatten und die nun aber nicht zugeben wollen und können, dass sie nicht mehr da ist. Sie täuschen die Dauerhaftigkeit einer Verwirklichung des Selbst vor.

Aus irgendeinem Grund kann ich sie in aller Klarheit unterscheiden. Ich brauche nur einen Satz von ihnen hören oder lesen und weiß Bescheid. Ich weiß nicht, warum das so ist, aber ich habe eine feine Antenne dafür.

Am lustigsten ist, wenn einer der angeblichen Advaita-Gurus auf den Schmuh eines angeblich Verwirklichten hereinfällt und das für bare Münze nimmt (habe ich wirklich erlebt).

Ich habe einen der Vertreter der Advaita mal persönlich getroffen. Es war eine sehr schöne Begegnung. Er ist einer von denen, die – zumindest als ich ihn traf – tatsächlich im Zustand einer Bewusstseinserweiterung waren. Ich konnte sein Sein in aller Klarheit fühlen. Es war sehr beeindruckend und ich mochte ihn sehr und schätze ihn auch immer noch – während ich hier aber trotzdem meine Kritik des Advaita verfasse.

Es passierte bei dieser Begegnung nämlich folgendes:

Von diesem Zeitpunkt an wollte ich es selbst für mich nicht mehr: Ich wollte mein Selbst nicht mehr verwirklichen. Mir waren auf einen Schlag viele Dinge wichtiger und wertvoller – und zwar vor allem meine Wünsche – auch (und vor allem) die ganz vergänglichen Wünsche und auch die ganz materiellen Wünsche.

Es ist witzig: In der Advaita sind es ja genau jene Wünsche, die für das Leiden verantwortlich gemacht werden.

Aber ich wollte lieber leiden – egal wie lange, egal wie stark – als das aufzugeben: mein kleines, materielles, leidvolles, unvollkommenes Erdendasein, mit seinen Problemen, Irrtümern, Beschränkungen, Träumen, Wünschen und seinem Leiden.

Und daran hat sich bis heute nichts geändert.

Ich mag den Advaita-Begriff das Selbst verwirklichen nicht. Meiner Erkenntnis nach verbirgt sich dahinter eine ganze Entwicklungsdimension, welche mit Bewusstseinserweiterung zu tun hat bzw. damit, dass eine erweiterte Identität erfahren wird. Verschiedene Menschen machen hier ganz verschiedene Erfahrungen. Anstatt immer zu behaupten „das kann man nicht in Worte fassen“ täten sie besser, ihren Verstand (den sie aber weitgehend ausgebootet haben) mal ein bisschen anzustrengen und sich darüber auszutauschen.

Jener Vertreter der Advaita, den ich getroffen habe, war übrigens zwar erleuchtet, aber nicht in der Lage, grundlegende Aufgaben seiner Erdenexistenz zu lösen, wie z.B. seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Und das ist genau der Hauptpunkt meiner Kritik an der Advaita: Die Verwirklichung des Selbst wird erreicht, indem Verstand und Ego mehr oder weniger weggeworfen werden. Damit fehlen aber die wichtigsten Komponenten der menschlichen Psyche, um sich in der materiellen Ebene wirkungsvoll zurechtzufinden bzw. um materielle Wirkungen zu erzielen.

Der Weg zur Verwirklichung des Selbst erfolgt in der Advaita an Verstand und Ego vorbei.

Ich persönlich glaube noch an einen anderen Weg: Indem man die konkreten Aufgaben seines Lebens annimmt (mit allem Leiden, das vielleicht damit verbunden ist), werden sich irgendwann auch Zustände von Bewusstseinserweiterung einstellen. Das ist aber nicht wichtig. Advaita begeht den Irrtum, das zur einzigen menschlichen Entwicklungsdimension bzw. zum eigentlichen Ziel eines menschlichen Lebens zu erheben. Und das ist es nicht.

Und warum soll man Leiden beenden? Das klingt so plausibel: das Leiden beenden. Aber es ist nicht plausibel. Es gibt Dinge, die unendlich viel wichtiger sind, als das Leiden zu beenden. Advaita erreicht dieses Ziel – das Leiden zu beenden – indem Teile des Selbst, wie sie zum Beispiel durch Ego und Verstand repräsentiert werden, verleugnet werden. Und Advaita erreicht dieses Ziel, indem Aspekte des menschlichen Seins – nämlich die vergänglichen Wünsche – verleugnet werden.

Das alles ist Selbstverleugnung in Reinkultur. Man erreicht durch Advaita bestimmte Erfahrungsebenen (die sicher sehr angenehm sind), indem andere Erfahrungsebenen, die vielleicht nicht so angenehm aber ebenso legitim sind, ausgeklammert werden.

Und so ist für Advaita vor allem auch kennzeichnend, dass von einem sehr einfachen Leben als Sinn und Ziel dieser Erdenexistenz ausgegangen wird: So wie Ramana Maharshi, der nur einen Becher und ein Hemd besaß und außer Meditation, weise Reden schwingen und Gemüse fürs Essen schnibbeln aber nicht viel tat.

Für viele Menschen ist das sehr anziehend: „Ja das sind die weisen Menschen, die alles Materielle überwunden haben.“

Aber sind sie das wirklich? Oder sind das am Ende einfach nur jene, welche die unendlichen Möglichkeiten der materiellen Ebene verpassen zugunsten einer einzigen Erfahrungsdimension? Einer Erfahrungsdimension zudem, die man auch außerhalb der materiellen Ebene jederzeit erreichen kann. Dazu muss man nicht hier herkommen auf die Erde.

Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich selbst schätze die Freiheit. Jeder Mensch hat das Recht selbst über sein Leben zu entscheiden und bestimmte Erfahrungen anzustreben.

Aber Advaita erhebt das zum einzigen, alleinigen Sinn menschlicher Existenz und Entwicklung und negiert gleichzeitig viele andere Dimensionen menschlicher Entwicklung. Und diese Verallgemeinerung ist falsch. Es ist der Weg von ein paar Freaks, die sich entschlossen haben, viele Dimensionen der Erdenexistenz auszuklammern zugunsten einer einzigen möglichen Entwicklung.

Ja, diese anderen Dimensionen können Leiden bedeuten! Na und?

Advaita erhebt einen Aspekt menschlicher Erkenntnis und eine mögliche Dimension menschlicher Entwicklung zu DEM einen Aspekt und DER einen Dimension. Und das ist schlicht und ergreifend völlig falsch.

Ein simples Beispiel: Ein Mensch möchte Tanzen lernen oder sogar seinen Lebensunterhalt als Tänzer verdienen. Und vielleicht möchte er sogar großen Erfolg als Tänzer haben.

Ja, vergängliche Wünsche. Ja, jede Menge Leiden.

Es erscheint so wenig und jämmerlich kleinlich gegen DIE EINE große Erleuchtung.

Aber eine kleine Sache haben die Advaita-Vertreter übersehen:

Erleuchtet sein kann man immer. Diese Form von Erkenntnis und Erfahrung ist nicht an die materielle Erdenexistenz gebunden.

Aber Tanzen kann man nur jetzt und hier auf der Erde!

Und deshalb sage ich: Steh zu deinen Wünschen – egal wie vergänglich, egal wie materiell, egal wie unbedeutend oder kleinlich sie auch erscheinen mögen. Steh zu deinen Wünschen und strebe nach ihrer Erfüllung, egal wieviel Leiden das auch bedeuten mag. Steh zu deinem Ego und steh zu deinem Verstand, auch wenn sie im Moment vielleicht noch nicht gerade durch reibungslose Funktion glänzen. Steh zu dir selbst!